Marit Tingleff. Irdene Dinge

Große Keramikkunst aus Norwegen im Keramikmuseum Westerwald.

Im Süden Norwegens ist ein rotbrennender Ton vorhanden, mit dem man niedrig gebrannte Gebrauchswaren fertigte. Marit Tingleff stellt sich bewusst in diese Tradition und nutzt die Ausdruckskraft der Irdenware, die mit ihrer Einfachheit eine Nähe zum Alltäglichen herstellt. Sie erkannte früh, dass die europäische Irdenware viele Möglichkeiten für eine künstlerische Auseinandersetzung in sich birgt. Eine Begegnung mit der Keramik des dänischen Architekten und Designer Thorvald Bindesbøll (1846–1908) war dafür prägend. Seine Gefäße mit den freibemalten, abstrakten Ornamenten inspirierten sie, ihre eigene Sprache in diesem unterschätzten Bereich der Keramik zu finden. Im Rahmen des Kultursommers Rheinland-Pfalz unter dem Motto „Kompass Europa: Nordlichter“ stellt das Keramikmuseum Westerwald nun Werke von Marit Tingleff aus.

Marit Tingleff

Die Ausstellung Irdene Dinge zeigt Objekte von Marit Tingleff, die von gebrannter Gebrauchsware inspiriert sind. Foto Helge Articus.

Marit Tingleff

Marit Tingleff im Keramikmuseum Westerwald. Doubles, 2018, im Hintergrund On the bright side, 2003. Foto Helge Articus.

Getragen von Frauen

1954 geboren studierte Tingleff an der Hochschule für Kunst und Design in Bergen und leitete von 2013 bis 2016 den Fachbereich Keramik an der Kunstakademie Oslo [KhiO]. Ausgangspunkt ihrer Werke ist die traditionelle, alltägliche Gebrauchskeramik. Tingleff vergrößert Teller, Platten und Schüssel zu kraftvollen Monumenten. So werden diese zu einer Hommage an die Frauen, die das gute Geschirr pflegten und bei besonderen Gelegenheiten mit Stolz präsentierten. „Ich möchte all die Hände ehren, die dieses Geschirr zu Tisch getragen haben, und die gleichen, oft weiblichen Hände, die es abwaschen und wegstellen mussten“, sagt sie dazu.

Spontan und freihändig bemalt Marit Tingleff die Platten mit farbigen Engoben. Dabei nutzt sie eine Erkenntnisse der modernen Malerei, bei der das Ornament aus der Aktion entsteht. Die Übergröße des Trägers befreit die Malerei, die hier nicht aus dem Handgelenk, sondern aus dem Körper kommt. Die gesprenkelten, gegossenen und bemalten Schlickerschichten wäscht Tingleff mehrmals von dem feuchten Ton ab. So entsteht in rhythmischem Vorgang nach und nach eine sinnliche Malerei. Die farbigen, geschwungenen Linien und Farbflächen symbolisieren die Verflechtungen der vielen Geschichten, die an Küchentischen erzählt wurden.

Marit Tingleff

Marit Tingleff Standing Tiles. Foto Helge Articus.

Landschaft

Auch die nordische Landschaft nimmt eine bedeutende Rolle im Werk Tingleffs ein. Sie entschied sich schon früh dafür, keine importierten, sondern nur den lokalen Ton zu nutzen. Ihre Beobachtungen von Mustern oder Farbstimmungen in der Natur verarbeitet sie in Landschaftsbilder und verinnerlicht so die Außenwelt. Dabei spricht sie einerseits erhabene Naturerfahrungen an, weist in manchen Arbeiten aber auch auf Umweltkatastrophen hin.

Ihre größten Arbeiten waren nur mit Ton aus dem Westerwald umsetzbar. Dazu besuchte sie 2016 die Lagerstätten der Firma Goerg & Schneider und suchte sich persönlich das Material aus. Diese Serie aus vier großformatigen, Trog-ähnlichen Formen, sind in der Ausstellung zu sehen. Mit einem Maximum an keramischer Bildfläche eröffnet sich ein Panorama aus vier Farberfahrungen in der Landschaft.

Marit Tingleff

Marit Tingleff Sea cold, Growth, Light earth, Dark, 2017. Aus der Sea cold und Growth Sammlung Nasjonalmuseet Oslo. Foto Helge Articus.

Irdene Dinge

Eine weitere Arbeitsgruppe sind ihre doppelwandigen Objekte, die nur noch ganz entfernt an Küchenutensilien wie Stövchen oder Siebe erinnern. Hier entsteht die doppelte Ebene nicht aus mehreren Farbschichten oder Hinweisen auf die Tischkultur, sondern wird autonom dreidimensional verkörpert. Die rätselhaften Formen veranlassten den dänischen Kunstkritiker Poul Erik Tøjner dazu, sie als „Tingleffs“ zu bezeichnen. Denn die erste Silbe ihres Nachnamens bedeutet in der norwegischen Sprache tatsächlich „Ding“ und ist somit vielleicht die beste Umschreibung dieser rätselhaften Arbeiten. Sie sind doppelwandig, aber nicht doppeldeutig, und weisen die Frage nach ihrer Relevanz zurück. Man kannte sie noch nicht. Aber nun haben sie ihren Raum im Keramikmuseum eingenommen. Gerade in einer Zeit, wo Begegnungen nur digital stattfinden und das Haptische definitiv zu kurz kommt, freuen wir uns auf diese herrlichen irdenen Dinge.

Begleitprogramm

Bedingt durch die aktuelle Situation kann leider keine Vernissage stattfinden. Für den Sommer sind zwei Begleitveranstaltungen geplant, für die man sich unter kontakt@keramikmuseum.de anmelden kann:

Blick in unsere Landschaft, in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft Westerwald-Ton e.V.
(Termin wird noch bekanntgegeben). Marit Tingleff reiste 2016 extra in den Westerwald, um hier den Rohstoff für Ihre Arbeiten auszusuchen. In dieser Veranstaltung wird der Blick auf unsere einmalige Landschaft gelenkt. Museumsleiterin Dr. Nele van Wieringen führt durch die Ausstellung. Danach folgt ein Ausflug in die Tonlagerstätten des Westerwalds, wo die Besucher über die moderne, nachhaltige Tongewinnung unter Berücksichtigung des Naturschutzes informiert werden.

Blick in Omas Geschirrschrank, mit Dr. Christian Lechelt am 24.7.2021,14 – 17 Uhr. Marit Tingleff spricht auf ganz persönliche Weise die Rituale und die Tischkultur an, die den Gebrauch von Porzellan und Keramik mit sich bringen. Besucher können ihr gutes Stück aus Omas Schrank von dem Porzellanspezialisten Dr. Christian Lechelt, Leiter des Museums Schloss Fürstenberg, begutachten lassen. Sie erfahren so mehr über den Hersteller und das Design.

  • Keramikmuseum Westerwald
    Lindenstraße 13
    56203 Höhr-Grenzhausen
    Deutschland
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